In der Welt hinter dem Medaillon

Leseprobe: Auszug aus Rotbartsaga 1, Kapitel 2 „Carlszoons Cottage

27Kapitel2 MedaillonSchamane, Medaillon, magische Karte, alles ohne Zweifel Dinge, die schon für sich genommen ausreichend Stoff für phantasievolle Geschichten hergeben. Aber ganz ehrlich, liebe Leser, für das 17. Jahrhundert waren solche Zauberwelten ja ganz in Ordnung, aber eine Karte ist eine Karte und ein Medaillon eben ein aus welchem Material auch immer hergestelltes Schmuck- und bestenfalls Erinnerungsstück. Ein wenig wunderte ich mich schon über Carl Carlszoons esoterische Anwandlungen, hatte ich ihn doch auf meiner Zeitreise als außerordentlich vernünftigen, realitätsbezogenen Menschen kennengelernt. Nun gut, so eine Zeitreise in die Vergangenheit, wie ich sie im vorherigen Kapitel geschildert habe, mögen Viele sicherlich auch eher als Seemannsgarn abtun, aber Zaubermedaillons und magische Landkarten, das geht dann schon ein wenig weit, dachte ich bei mir während ich das versiegelte Dokumentenpaket öffnete und gedankenverloren den Inhalt sichtete. Tatsächlich befand sich auch das in die Karte eingeschlagene Medaillon unter all den Dokumenten. Ich erkannte sie sofort wieder. Es war die detaillierte Zeichnung der Gegend um den heutigen Mystic River mit dem Hinweis auf Carlszoons Cottage, die mir Piet Carlszoon damals im Biergarten der Wanfrieder Schlagd als vermeintliche Serviette untergeschoben und die ich Carl bei unserem Abschied in Bremen heimlich in die Jacke gesteckt hatte, zu einer Zeit, da er selbst noch gar nicht wusste, wo genau in der Neuen Welt er sich niederlassen würde.

„Viele Sommer sind den Strom der Zeit hinabgeflossen“, meldete sich eine wohlklingende Stimme in meinem Kopf, „und lange musste ich auf deinen Besuch warten.“

Das Gesicht, das sich zunächst nur verschwommen bald aber zunehmend klarer auf der schillernden Oberfläche des Medaillons abzuzeichnen begann, war das eines Indianers. Seine Lippen bewegten sich nicht, dafür aber sprachen seine Augen eine deutliche Sprache und die Stimme in meinem Kopf gehörte eindeutig zu diesem markanten Konterfei.

„Du musst Posscow sein“, stellte ich fest, um meine Überraschung in den Griff zu bekommen und einfach überhaupt etwas zu sagen.

Die Augen des Schamanen blickten jetzt nicht mehr nur vorwurfsvoll ob meines offensichtlich verspäteten Erscheinens zu einer Verabredung, von der ich gar nichts wusste, sie blitzten mich nun wütend an.

„Ich bin Possoúgh-Cowwéwonck, nur Carl vom Meer durfte mich Posscow nennen! Und wer bist du überhaupt, Mann mit dem spärlichen Haupthaar?“

Jetzt war es an mir, den alten Schamanen wütend anzublitzen, weniger wegen der geschmacklosen Anspielung auf mein, na ja, eben spärliches Haupthaar, als vielmehr, weil er wohl die Lautstärke seiner Stimme in meinem Kopf nicht so recht unter Kontrolle hatte: „Du musst gar nicht so brüllen, ich verstehe dich auch so gut genug, schließlich treibst du dich ja in meinem Kopf herum, was ich gelinde gesagt für außerordentlich respektlos halte. Im Vergleich dazu ist die Abkürzung deines für mich unaussprechlichen Namens wohl kaum der Aufregung wert, großer Katzentraumgeist.“

„Aahh“, kommentierte das Medaillongesicht und seine Augen unterzogen mich einer gründlicheren Musterung, „Aahh, du bist ganz ohne Zweifel nicht der, den ich erwartet habe.“

Nun bewegte der alte Schamane auch seine Lippen und seine Stimme erreichte mich auf ganz normalem Wege über meine Ohren. „Berichte, wie kommst du an das Medaillon?“

Entweder hatte sich die antike Lederhaut ein wenig beruhigt oder ich hatte den Medaillonschamanen mit meiner direkten und furchtlosen Art gehörig beeindruckt. Jedenfalls machte er keine Anstalten mehr, wegen meiner saloppen Ansprache herumzunörgeln. Als ich ihm die ganze Geschichte erzählte, da war von ihm außer einem gelegentlichen „Aahh“ nichts zu vernehmen.

„Nun, große Traumkatze, der gute Piet treibt sich nun bereits seit mehr als dreihundert Sommern in den ewigen Jagdgründen herum und wird Carls Vermächtnis wohl kaum mehr erfüllen können.“ Um dem neuweltlichen Ethnozauberer sprachlich etwas Vertrautes zu bieten, beendete ich meine Ausführungen mit: „How, ich habe gesprochen!“

„Aahh“, sagte der alte Puma – denn Puma ist die Übersetzung von Possoúgh – und schaute mich lange an. Als er schließlich weitersprach, konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich über mich lustig machte: „Dann du erfüllen Vermächtnis! How, großer Puma haben gesprochen!“

Der Schamane trat ein wenig zurück und gab den Blick auf die Landschaft hinter ihm frei. Eine breite Flussmündung mit vorgelagerten Inseln entfaltete sich vor meinen Augen. Am Ufer sah ich eine große Hütte, auf die Posscow, mich hinter sich herwinkend, zuging. Ich folgte ihm und fand mich nun offensichtlich auf der anderen Seite des Medaillons wieder, in Carl Carlszoons Welt. Ich will mich nicht lange mit ausschweifenden Beschreibungen über die malerische Landschaft, die urige Einrichtung der geräumigen Hütte oder die über den Fluss paddelnden Indianer in ihrem unerwartet großen und schwer beladenen Kanu auslassen. Auch für die am Ufer liegende holländische Yacht, die jener ähnelte, auf der mich Liebermann alias Carl Carlszoon nach Amsterdam entführt hatte, erübrigte ich kaum einen Blick, zumal mich Posscow drängte, über die Holzleiter durch die Dachluke auf den Speicher des Hauses zu klettern, um dort, wie er meinte, Fährten aufzunehmen. Er selbst zog es vor, unten zu warten. Sein Kommentar: „Zu viel fremder Zauber da oben!“

Ganz unrecht hatte er sicherlich nicht, wenn ich mir die wild durcheinander gewürfelten Utensilien oder – um in der Sprache jener Zeit zu bleiben – Curiositäten anschaute. Da war vom Schrumpfkopf über magisch bemalte Schilde bis hin zu Totokschnitzereien aus Papua-Neuguinea so ziemlich alles vertreten, was sich auf den Weltreisen der damaligen Zeit an Ethnoartefakten so zusammenklauben ließ. Alte Bücher, schon halb zu Staub zerfallen, Fässer, Kisten und so manch ungewöhnliches Behältnis ergänzten diese – diplomatisch formuliert – recht ungeordnete Sammlung.

CarlszoonsSpeicher2

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